
Generell würde ich sagen, es gibt zwei verschiedene Zielsetzungen, die wir mit einem User Research Prozess verfolgen können: Entweder, wir testen Hypothesen zu einem Produkt oder Prototypen; bei diesem Ansatz steht dann das Artefakt im Vorderung und so wird User Research allermeistens angegangen. (Denkt zum Beispiel an Usability-Tests.) Nachteil ist aber, dass uns dieser Ansatz in der Regel ziemlich stark einschränkt: Wir bleiben auf dem bereits eingeschlagenen Weg und es fällt schwer, über den Tellerrand hinauszuschauen oder zu denken.
Der zweite Ansatz ist mir viel lieber, denn anstatt uns auf das Produkt zu konzentrieren, stehen hier Menschen im Mittelpunkt. Mit Blick auf die Userin schauen wir uns ihr Verhalten, ihren Kontext, ihre Ziele und Probleme an – und daraus entwickeln wir dann neue Ideen, finden einen fruchtbaren Boden für Innovation. Insgesamt ist diese Art Research zu machen viel explorativer, denn wir können uns damit von unseren bestehenden Geschäftsmodellen und Produkten lösen und uns ansehen, was die Menschen wirklich von uns brauchen. In diesem Blogbeitrag zeige ich, wie ihr einen strategischen User Research Prozess integriert, der genau das tut.
User Research im Projekt zu integrieren, nur „um mal mit jemandem gesprochen zu haben“, fühlt sich zwar gut an, ist aber nicht besonders nützlich.
Christoph Erle, Iconstorm
Strategischer User Research Prozess: Liefert Zielrichtung, Tragweite, innovative Ideen
Wichtig: Strategische User Research gehört an den *Anfang* des Projekts!
In meinem letzten Beitrag habe ich über das „Fuzzy Frontend“ des Innovationsprozesses geschrieben; wie dort schon gesagt, ist User Research sehr effektiv darin, die Komplexität am Anfang eines Projekts zu entwirren und eine gute Richtung zu finden. Und genau deshalb gehört meiner Meinung nach ein User Research Prozess auch an den Anfang eines Projekts, unabhängig davon, ob wir mit einem erwachsenen Produkt oder einer interessanten Idee arbeiten. Dafür gibt es zwei Hauptgründe…
Zwei Gründe, User Research an den Anfang zu stellen
1) User Research hilft, Kosten und Risiken zu reduzieren, indem sie eine Richtung vorzeichnet
Die sogenannte Rule of Ten sagt aus, dass wir drastisch Kosten senken, wenn wir Fehler schon früh im Projekt vermeiden. Das ist auch logisch, denn wenn wir einen Prototyp schon gebaut und eine Menge Arbeit investiert haben, ist es plötzlich sehr teuer, wenn etwas damit nicht stimmt. Auf einmal fangen wir wieder bei Null an und der Zeitaufwand des Projekts explodiert. Wenn wir jedoch frühzeitig herausfinden, was die Bedürfnisse unserer Nutzer:innen sind, entwickeln wir zielgerichteter und das Risiko sinkt. Mit User Research erhalten wir also eine bessere Vorstellung von Umfang und Richtung unseres weiteren Projekts.
2) User Research hilft, Purpose zu finden und deckt Potenziale auf
Mit einem explorativen Research-Ansatz zu Beginn des Projekts richten wir die Aufmerksamkeit darauf, was die Menschen brauchen, und nicht darauf, was wir bauen können. Mit deren Bedürfnissen als Ausgangspunkt entwickeln wir dann viel spannendere Produkte. Das Bild oben stammt von der britischen Firma Open Bionics und ist eines meiner Lieblingsbeispiele in dieser Hinsicht, weil deren Hero Arm so viel mehr ist als nur ein Ersatz. Er ist nicht nur günstig oder funktional – er verändert die Gespräche auf dem Schulhof! Das finde ich viel faszinierender, als nur das Produkt zu verbessern; und das gelingt nur, wenn wir den Menschen in den Mittelpunkt stellen.
Einbinden eines User Research Prozesses in ein Innovationsprojekt
Ein Rezept für strategische User Research:
Prozess, Methoden, Interviews, Infrastruktur…
Voilà.
Unten gebe ich ein paar praktische Ansätze, mit denen ihr einen User Research Prozess integrieren und im Projekt nutzen könnt. Das Ziel ist es, den Prozess innerhalb der Zwänge eines typischen Projektrahmens anwendbar zu machen. Dabei solltet ihr vier Themen berücksichtigen: Die Prozesstruktur, die Methoden, die für die Arbeit mit den Ergebnissen angewandt werden, das Wie der Interviews und der Auswertung und die Infrastruktur, die vorhanden sein muss.
Da Research eine Investition ist, muss sie als managebarer Prozess mit vorhersehbaren Ergebnissen gestaltet werden. Vor allem zweiteres ist etwas, das ein wenig geistige Anstrengung bedeutet, da ein explorativer Ansatz mit offenen Interviews auf den ersten Blick vielleicht nicht allzu vorhersehbar scheint. Hier sind die wichtigsten Bausteine, die in einen guten Prozess gehören:
Baustein 1: Zeichnet den Prozess genau vor und definiert Purpose, Ziele
Die Vorbereitung des Research-Prozesses sollte Hand in Hand mit der allgemeinen Projektplanung. Am besten macht man einen Kickoff mit allen relevanten Personen am Tisch. Bereitet dazu eine Liste mit den Dingen vor, die auf jeden Fall geklärt werden müssen. Zum Beispiel: Was sind Purpose und Ziele der Interviews? Welche Ergebnisse sollen dabei rauskommen? Wer ist alles beteiligt? Und so weiter. (Besoders das Stakeholder-Management, ist in dem Zusammenhang ein großes Thema, aber dazu muss ich vielleicht einen weiteren Blogbeitrag schreiben.)
Es ist außerdem wichtig, die Prozessstruktur und den Zeitrahmen festzulegen: Es ist am besten, die einzelnen Schritte im Voraus zu planen und möglichst genaue Vorhersagen zu treffen. In der Regel gliedert sich ein User Research Prozess in vier Phasen: Die Vorbereitungsphase, die eigentlichen User Interviews, die Auswertung der Interviews und schließlich die Designphase. Wie lange der Prozess insgesamt dauert, hängt jeweils vom Projekt und dessen Anforderungen ab.
So machen wir es: Bei Iconstorm können wir vorhersagen, dass ein einstündiges Interview plus Auswertung ca. 8 Stunden in Anspruch nimmt; als Ergebnis werden wir etwa 80 bis 90 verwertbare Aussagen haben, die ins Design mitgenommen werden. So lässt sich die Zeit für die Interviews insgesamt schätzen und nach Hinzunahme des Budgets für die Vorbereitungs- und Designphase können wir die einzelnen Aufgaben in Form eines Sprints durchführen.
Baustein 2: Definiert Methoden und Deliverables
User Research im Projekt zu integrieren, nur „um mal mit jemandem gesprochen zu haben“, fühlt sich zwar gut an, ist aber nicht besonders nützlich. Je nach Projektziel und -anforderungen solltet ihr also überlegen, was am Ende zu liefern ist. Ich empfehle dazu die Definition einer Toolchain, die Methoden kombiniert, die gut aufeinander aufbauen. Bei der Auswahl ist natürlich noch zu beachten, dass sie sich an euren Zielen orientieren und in den Zeitrahmen passen.
Ob wir jetzt über User Stories, Job Maps, Value Propositions… Personas, Customer Journeys, TRIZ… eine Strategiematrix, IO-OI, Markenpositionierung oder Golden Circle sprechen – ihr könnt eure Interviews auf all das zustricken, wenn ihr euch vorher klar seid, welche Methoden ihr einsetzt. Zum Beispiel können User Jobs aus der Jobs-Theorie gut mit User Stories kombiniert werden; der Golden Circle passt super zu einem Brand Positioning; und so weiter. Daher empfehle ich auch generell, den methodischen Werkzeugkasten ständig zu erweitern, um für alles gerüstet zu sein.
Hier ein Beispiel aus einem unserer Projekte. In diesem Fall hatten wir am Ende eine starke User Persona, einen Product Purpose, eine detaillierte Job Map und drei Value Propositions für Prototypen als Ergebnisse. Zur Info: Jeder Sticky auf den abgebildeten Canvasses trägt eine Aussage aus einem User Interivew; das bedeutet, dass das Prototyping damit auf konkreten Insights aus Gesprächen basierte.
Baustein 3: Führt Interviews, die auf den Methoden aufbauen
Das klingt einfach, ist aber tatsächlich schwierig: Für gute Nutzerinterviews sind Standards, die die Qualität sicherstellen, von größter Bedeutung. In erster Linie braucht man einen guten Interviewerleitfaden und gute Fragen. Und an letzteren mangelt es oft. Um es auf zwei Prinzipien herunterzubrechen, würde ich Folgendes sagen: Eine gute Frage steht einerseits im Zusammenhang mit den von gewählten Methoden; andererseits produziert sie eine nützliche Antwort.
An die gewählten Methoden anzuknüpfen ist relativ unkompliziert, benötigt aber etwas Arbeitsaufwand: Schaut einfach eure Methoden an und überlegt dann, welche inhaltlichen Aspekte darin verborgen sind. Diese Aspekte sollte dann auch das Gespräch wiederspiegeln. Eine brauchbare Antwort zu bekommen, ist hingegen nicht so einfach, denn in den meisten Fällen sollte man die Leute auf keinen Fall direkt nach dem fragen, was man wissen möchte.
Beispiel: Ihr richtet ein neues Büro ein und wollt wissen, was eure Leute da brauchen. In dem Fall könnt ihr in Interviews nicht danach fragen, was ihrer Meinung nach die perfekte Infrastruktur für einen Arbeitskontext ist oder ähnliches. Solche Fragen erfordern viel Expertenwissen, das kaum ein Interviewgast mitbringen wird. Konzentriert euch stattdessen auf Dinge, über die die Leute wirklich etwas wissen: Etwa, wie sie sich im Büro verhalten, wie sie arbeiten wollen, was sie dabei öft stört, warum sie überhaupt ins Büro kommen… Da die Probanden hierzu wirklich etwas wissen, arbeitet ihr dann später mit Fakten, nicht bloß Meinungen oder Vermutungen.
Beispiele: Diese Fragen sind wahrscheinlich nicht die Besten…
Was wünschst du dir in unserem neuen Büro?
Gast A: „Ich hätte gerne einen Bürohund!“
Gast B: „Ich hätte gerne eine Bürokatze!“
Gast C: „Ich hasse Hunde, wer hat das gesagt?“
Wir erhalten widersprüchliche Ergebnisse, wenn wir nach Wünschen fragen.
Was ist deiner Meinung nach die beste Infrastruktur für ein Bürogebäude?
Gast: „Ähhh… ich weiß nicht. Vielleicht viele Blumen und viel Platz, um an meinem Schreibtisch zu arbeiten, eine schöne Küche… Moment, was brauchen die Leute noch?“
Der Gast kann nicht selbstbewusst antworten, weil wir von ihm erwarten, dass er ein Experte für Bau- oder Raumgestaltung ist.
Hast du irgendwelche coolen Ideen, die wir in unserem neuen Büro umsetzen sollten?
Gast: „Ja! Die Kaffeemaschine braucht Voice Controls!“
Gast: „Wir brauchen eine öffentliche Bar!“
Gast: „Jetzt, wo es legal ist, könnten wir doch… Pflanzen anbauen?“
Wenn wir nach Ideen fragen, erhalten wir Features, die wir vielleicht besser nicht umsetzen.
Baustein 4: Baut eine Infrastruktur für eure Projekte
Schließlich sind noch Tools wichtig, die einen reibungslosen Prozess garantieren. Ich denke, zwei gute Hinweise in dieser Hinsicht betreffen das Prozessmanagement für die Interviews und die Verknüpfung von Interviewanalyse und Designphase.
Was den Prozess betrifft, gibt es einen sehr wichtigen Punkt zu beachten: den „Informed Consent“ der Befragten nach DSGVO. Ihr müsst nämlich genau schildern, was der Zweck der Research ist, wofür das Interview gemacht wird, welche Daten ihr aufzeichnet, welche Rechte die Teilnehmer haben, wer anwesend sein wird und so weiter. (Weitere Informationen finden sich in diesem White Paper des EUI.) Nachdem ihr die Zustimmung erhalten habt, muss natürlich auch der Prozess widerspiegeln, was ihr versprecht. Wenn also Anonymität angepriesen wird, stellt diese auch sicher.
Zweitens gibt es noch die Verknüpfung von Evaluation und Designphase. Das ist etwas einfacher und ich empfehle dazu die Verwendung einer Datenbank oder eines Spreadsheets. Da ihr euch vorher schon eure Methoden und deren Inhalte angeschaut habt, könnt ihr für die Auswertung Statement-Kategorien definieren, die ihr aufnehmen wollt. Stellt dazu ein paar Regeln auf, wie die aufgeschrieben werden und füllt die Datenbank; Ergebnis ist dann eine semantische Analyse und ihr könnt die Spalten einfach auf Stickies kopieren; die sind dann ideal, um direkt in den Workshop einzusteigen.
Fertig!
Ihr habt Fragen?
Ich weiß, das alles aufzubauen klingt nach viel Arbeit. (Ist es auch.). Aber der Nutzen ist unbestreitbar. Eine gute User Research ist die Grundlage für ein richtig gutes Innovationsprojekt. Wenn ihr also einen Prozess wie den oben in euer Projekt integrieren wollt, kann ich dazu nur ermutigen. Natürlich könnt ihr euch auch jederzeit mit mir auf LinkedIn connecten, wenn ihr dazu weitere Fragen habt. Ich helfe gerne!
Bis dahin, viel Erfolg da draußen!