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Homo Weirdos – Was uns die Verhaltensökonomie über den Menschen lehrt

Title: Titelbild Design und Verhaltensökonomie (design and behavioral economics)
Die Verhaltensökonomie erforscht, wie Menschen auf Informationen reagieren, sich Meinungen bilden und Entscheidungen treffen. Für Design als Disziplin sind Erkenntnisse aus diesem Feld besonders wertvoll um sich den Mustern anzunähren, die Menschen in ihrem Verhalten an den Tag legen.

Im Design zieht alles, was wir tun, eine Veränderung menschlichen Verhaltens nach sich – und zwar, ob wir das wollen oder nicht. Unsere Entscheidungen beeinflussen das Verhalten von Menschen; alles, was gestaltet wird, ist später (hoffentlich) Teil unserer Lebenswelt. Design ist heute ein transdisziplinäres Feld, in dem wir uns mit der Schaffung von Werten beschäftigen. Eine der wichtigsten Dimensionen, mit der wir uns befassen, ist der menschliche Kontext, unser tägliches Erleben, Leben und Arbeiten, Denken und Fühlen. Möchte man das Phänomen Mensch besser verstehen, bietet sich unter anderem die Welt der Verhaltensökonomie als Ausflugsziel an.

 

Vom Homo oeconomicus zur Verhaltensökonomie

Das wirtschaftswissenschaftliche Modell des Homo oeconomicus nimmt an, der Mensch sei ein rationaler Akteur, der Entscheidungen unter der Maxime der Nutzenmaximierung trifft. In diesem Sinne ist es eine extrem reduzierte Charakterisierung des Menschen; sie wird herangezogen um gesammtgesellschaftliche Abläufe zu beschreiben und zu erklären. Aber trotz seiner Popularität eignet sich das Modell nur bedingt, um menschliches Verhalten zu erklären oder gar vorherzusagen.

Eine andere interessante Perspektive bieten da die Behavioral Economics bzw. die Verhaltensökonomie. In diesem Teilbereich der Wirtschaftswissenschaften werden psychologische Muster erforscht, um individuelles Verhalten zu erklären, das genau nicht dem Modell des rational handelnden Homo oeconomicus entspricht. Unvernünftige, unlogische Denk- und Verhaltenmuster, die wir Menschen oft und gerne an den Tag legen.

 

Nudging: Menschen beeinflussen ohne deren Wissen

In der Verhaltensökonomie werden nicht nur die Ursachen irrationalen Verhaltens erforscht, sondern auch die Möglichkeiten, diese gezielt einzusetzen, um Verhaltensmuster zu beeinflussen. Nudging (deutsch: „schubsen“) nennen wir das heute; ein Begriff, der von den amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern Cass Sunstean und Richard Thaler geprägt wurde, die als wichtige Vertreter der Verhaltensökonomie gelten.

Da unser Gehirn darauf ausgelegt ist, möglichst effizient zu arbeiten, verfällt es beim Umgang mit Informationen in wiederkehrende Muster, die wir im Alltag selten aktiv hinterfragen. Oft wird dafür als Beispiel unser prozedurales Gedächtnis herangezogen, dass beispielsweise beim Auto- oder Fahrradfahren ins Spiel kommt: Nach genug Übung können wir Menschen das, als wären es automatische Vorgänge – und haben dann Zeit, über unsere Steuererklärung oder den letzten Bundesligaspieltag nachzudenken, während wir an der Kreuzung den Blinker setzen.

In ähnliche Automatismen verfällt unser Gehirn, wenn es mit neuen Impulsen konfrontiert wird. Es ordnet diese möglichst effizient in vorhandene Konstrukte ein, zieht Vorwissen heran, um sie zu bewerten, und greift insgesamt auf bereits „gelernte“ Denkweisen zurück, um mit ihnen umzugehen. Aufgrund dieser gelernten, unbewussten Mechanismen ist es dann möglich, unser Verhalten durch das Bereitstellen der „richtigen“ Impulse in eine gewünschte Richtung zu „schubsen“ – und zwar, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

…Aufgrund dieser gelernten, unbewussten Mechanismen ist es dann möglich, unser Verhalten durch das Bereitstellen der „richtigen“ Impulse in eine gewünschte Richtung zu „schubsen“ – und zwar, ohne dass wir uns dessen bewusst sind…
Tim Heiler

 

Der kuriose Mensch

Wie kurios der Mensch eigentlich ist, erkennen wir schon in unserem eigenen Handeln. Ständig stehen wir in einem Widerspruch zwischen kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung und langfristig gesteckten Zielen. Legen wir unser Geld für die Rente an oder kaufen wir uns für 1.000 Euro das neue iPhone? Sind wir heute zu faul zum Zähneputzen und nehmen die langfristigen Konsequenzen in Kauf? Wie sehr lacht uns das Speiseeis an, während wir zur Strandfigur wollen? Befinden sich Raucher im Raum?

Menschen handeln unvernünftig. Und das nicht einmal absichtlich. Kognitive Verzerrungen nennt man in der Psychologie „fehlerhafte“ Regeln, die systematisch menschliches Denken und Handeln bestimmen können. Auf der englischsprachigen Wikipedia finde man zum Eintrag für Cognitive Biases insgesamt 186(!) Einträge. Diese clustern sich um die Art, wie wir uns selbst wahrnehmen, wie wir andere wahrnehmen, wie wir auf Botschaften reagieren, Informationen einordnen, Entscheidungen treffen oder sie im Nachhinein bewerten.

Dieses Schaubild auf Wikimedia zeigt, dass wir auf noch viel mehr Arten unvernünftig sein können, als wir denken.

Wikipedia’s complete (as of 2016) list of cognitive biases, beautifully arranged and designed by John Manoogian III (jm3). Categories and descriptions originally by Buster Benson. Attribution: John Manoogian III (Jm3), CC BY-SA 4.0

 

Einige Fundstücke aus der Liste, die Ihnen sicher bekannt vorkommen:

Rhyme as Reason Effect

Rhyme as Reason Effect: Wir neigen dazu, Dinge zu glauben, nur weil sie sich reimen. Sie wissen schon: Bier auf Wein sollte man sein lassen, Morgenstund hat Gold im Mund und man glaubt niemandem, der einen schon mal angelogen hat.

Just World Hypothesis & Gambler’s Fallacy

Just World Hypothesis und Gambler’s Fallacy: Bei ersterer handelt es sich um den weit verbreiteten Glauben, dass sich „alles irgendwie ausgleiche“. Wer Gambler’s Fallacy erliegt, behauptet zudem, dass er ganz bestimmt demnächst gewinnen wird, wenn er am Spielautomat Pech hat. Dabei gibt es absolut keine Evidenz, dass vergangene Geschehnisse die zukünftige Gewinnwahrscheinlichkeit beeinflussen.

IKEA-Effekt

IKEA-Effect: Der Name rührt daher, dass Menschen Dingen, in die sie eigene Arbeit investieren, tendenziell mehr Wert zumessen. Der bekannte schwedische Möbelhändler hat sich das zum Konzept gemacht; dabei spart er Kosten für Lieferung, Montage, und Lagerfläche – und seine Kunden finden das auch noch „hygge“.

Verhaltensökonomie im Feld

Am Beispiel von IKEA wird klar, wie kleine Phänome auf durch Skalierung wirtschaftlichen Nutzen oder auch Probleme schaffen können. Stellen sie sich vor, inwiefern die folgenden Beispiele die Entscheidungsfindung von IKEA-Kunden weltweit gleichzeitig beeinflussen könnten:

 

Handeln, Kaufen und Entscheiden

Decoy Effect

Decoy Effect: Wenn Menschen sich zwischen zwei Optionen entscheiden sollen, haben sie häufig eine klare Präferenz. Die kann sich jedoch verschieben, wenn weitere Optionen hinzukommen – obwohl die ersten beiden Optionen sich eigentlich gar nicht verändern. Illustrieren kann man das an Warenpreisen: Nehmen Sie an, sie sehen zwei Produkte vor sich, eins für 5 und eines für 15 Euro – im Vergleich wirkt letzteres ziemlich teuer. Wenn wir nun aber als „Decoy“ (deutsch: Köder) ein drittes Produkt für 30 Euro daneben stellen, wirken die 15 Euro plötzlich gar nicht mehr so unvernünftig.

Choice Overload

Choice Overload: Menschen fällt es schwerer, sich zu entscheiden, wenn sie mit zu vielen Auswahlmöglichkeiten konfrontiert sind. Das geht unter anderem auf die Studie „When Choice is Demotivating: Can One Desire Too Much of a Good Thing?“ der Psychologen Sheena Iyengar und Mark Lepper zurück; die konnten anhand von einem Experiment mit Marmeladensorten zeigen.

Anchoring Effect

Anchoring Effect: Der Mensch verlässt sich bei Entscheidungen zu sehr auf eine erste angebotene Information. Diese fungiert als „Anker“, anhand dessen er neue Informationen bewertet. Dazu machten Psychologen um den Amerikaner Brian Wansink ein Feldexperiment zu Kaufentscheidungen im Supermarkt. Sie ließen reduzierte Suppendosen anbieten: in einem Fall ohne weitere Maßnahme, im zweiten mit der ausdrücklichen Einschränkung: „Höchstens 12 Dosen pro Person“. Während Kunden im Fall ohne die Einschränkung im Durchschnitt 3,3 Dosen kauften, fungierte im zweiten Fall die Zahl zwölf als Anker: Durchschnittlich wurden nun ungefähr sieben Dosen abgesetzt.

Default Effect

Default Effect: Wenn Menschen mit mehreren Optionen konfrontiert sind, neigen sie dazu, überdurchschnittlich oft die Option auszuwählen, die bereits als „Default“ voreingestellt ist. Das wird zum Beispiel im Online-Handel gerne angewandt, damit beim Kauf in möglichst vielen Fällen die vom Händler bevorzugte Zahlungs- oder Lieferart gewählt wird. Auch beim Verkauf von Mobilfunk- oder DSL-Verträgen ist das eine beliebte Methode.

 

Der Umgang mit Informationen

In der digitalisierten Welt sind Menschen ständig mit Informationsangeboten konfrontiert. Suchmaschinen und mehr oder weniger soziale Medien ergänzen unsere „herkömmliche“ Kommunikation und geben ihr ein proaktives Element: Wir suchen uns heute primär selbst unser Wissen zusammen und recherchieren online – das gelingt allerdings nur mehr oder weniger gut.

So gibt es beispielsweise die bekannte Confirmation Bias, nach der wir vor allem gezielt nach solchen Informationen suchen, die unsere bereits vorhandenen Sichtweisen bestätigen. Wenn wir dann aber viele „passende“ Informationen kennen, denken wir dann umgekehrt, dass diese sehr wahrscheinlich korrekt sein werden; dabei ignorieren wir aber, dass es Informationen geben könnte, die wir gar nicht kennen (Illusion of validity). Nicht zuletzt versuchen unsere Gehirne, den uns bekannten Informationen Muster anzudichten, selbst wenn keine da sind (Illusory Correlation).

Verstärkt werden diese Verzerrungen noch damit, dass Menschen tendenziell Informationen glauben, nur weil sie oft wiederholt werden (Availability cascade), und eher Behauptungen zustimmen, wenn sie unkompliziert sind (Illusory Truth Effect). Nun ist es am Einzelnen, neben der Informationsflut auch noch die eigenen blinden Flecke zu bewältigen.

 

Kommunikation, Marketing und Werbung

Framing Effect

Framing Effect: Menschen können mit ein und derselben Information konfrontiert werden – aber je nachdem, wie diese präsentiert wird, darauf basierend unterschiedliche Entscheidungen treffen. Bekannt ist das aus einem psychologischen Experiment von Tversky und Kahnemann, in dem es um menschliche Risikobereitschaft in hypothetischen Krisensituationen ging. In der Marktwirtschaft werden Frames unter anderem zur Markenkommunikation eingesetzt: Ein den Eigenschaften nach gleiches Produkt kann viel attraktiver wirken, als ein anderes, wenn es mit einem stärkeren Markenversprechen einhergeht.

Bandwagon Effect

Bandwagon Effect: Als soziale Wesen treffen Menschen häufig Entscheidungen, nur weil viele andere das auch tun. Auf dieser Basis entstehen Trends, Internetmemes und popkulturelle Phänomene in vielen Fällen scheinbar wie von selbst. Die Diffusionstheorie beschäftigt sich in der Tiefe damit, wie beispielsweise Innovationen sich in der Gesellschaft verbreiten. In der Kommunikation wird, um den Bandwagon-Effekt auszunutzen, dieser auch gerne behauptet, denn: Wenn viele Menschen etwas nutzen oder kaufen schafft das Vertrauen und gibt uns Sicherheit.

Authority Bias

Authority Bias: Bekannt aus dem Milgram Experiment sind Menschen tendenziell bereit, auf Autoritätspersonen zu hören, selbst wenn sie deren Anweisungen kritisch hinterfragen und diese ganz offensichtlich negative Konsequenzen haben. In dem Experiment sollten die Probanden einem Dritten (ein Schauspieler) wiederholt vermeintliche Elektroschocks verabreichen – und die meisten taten dies bereitwillig. Popstars, Influencer, Politiker, Sportler, Marken und viele andere nutzen Ihre Authorität auf sehr unterschiedliche Weisen.

Dr. Fox Effect

Dr. Fox Effect: In einem Experiment wurde der Schauspieler Michael Fox engagiert, um inhaltlich fehlerhafte Fachvorträge vor verschiedenen Expertengruppen zu halten. Zwar waren diese Vorträge teils widersprüchlich, dafür aber war Dr. Fox ein charismatischer und effektiver Rhetoriker – und bekam herausragende Kritiken von seinem Fachpublikum. Das zeigt, dass auch die eigene Authorität oder Expertise nicht davor schützen, Informationen aus ziemlich unvernünftigen Gründen „falsch“ zu bewerten.

Change Aversion

Als sprichwörtliches „Gewohnheitstier“ fällt es vielen Menschen tendenziell schwer, sich auf Neues einzulassen. So besagt beispielsweise der Mere Exposure Effect, dass Menschen tendenziell Dinge mögen, nur weil sie ihnen einfach vertraut sind. Genau daraus rechtfertigen sich die großen Werbe- und Marketingbudgets bekannter Marken, die viel investieren und dabei große Streuungsverluste in Kauf nehmen, um möglichst allgegenwärtig zu bleiben. Menschen haben außerdem eine Status-quo Bias und begrüßen es tendenziell, wenn ihre Lebenswelt möglichst stabil bleibt. Das kann sogar so weit gehen, dass sie eine ganz offensichtlich negative Situation, in der sie sich befinden, einfach ignorieren (Ostrich Effect) und Informationen, die ihrem Weltbild widersprechen, gerne einfach grundlos zurückweisen (Semmelweis Reflex). Manchmal bestärken solche widersprüchlichen Impulse uns sogar, jetzt erst Recht bei unserer bestehenden Ansicht zu bleiben (Backfire Effect). Es ist also wohl Fingerspitzengefühl erforderlich, wenn man Menschen auf etwas Neues vorbereiten möchte.

 

Design für das Erleben

Wir sehen eines ganz klar: Der Mensch ist kein Homo oeconomicus, sondern wir sind wohl vielmehr „Homo Weirdos“ und stehen am Ende nicht in einem rein rational-funktionalen Verhältnis zu Welt. Vielmehr ist unser Erleben geprägt durch ein komplexes Gefüge aus funktionalen, emotionalen und sozialen Aspekten, selten aber von „reiner Vernunft“, und um unseren Informationsstand dürfen wir uns jederzeit auch sorgen. Menschenzentriertes Design darf nun helfen, dieses „große Unerwartete“ zu erkunden, und Aspekte und Effekte unseres Handelns zu entwirren.

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