Citizen Design: Bottom-up-Innovation, Kollaboration und kreatives Mindset

Der neue Citizen Designer

Titelbild: Citizen Designer

Förderung von Design-Skills für Bottom-up-Innovation

Ende 2019 schätzte die IDC, dass bis 2023 über 500 Millionen neue Apps entwickelt werden. Eine enorme Anzahl, für die, gemessen an aktuellen Prozessen, wohl kaum das Personal vorhanden sein dürfte. Vor diesem Hintergrund griff auch Microsoft CEO Satya Nadella die Prognose auf und schlug vor, wir bräuchten in Zukunft „Citizen Developer“, die mit einfach zugänglichen Low-Code/No-Code Anwendungen diese Apps programmieren. Damit sollen Nicht-Spezialisten in die Lage versetzt werden, technische Lösungen selbst zu produzieren.

Allerdings muss man hier einwenden, dass bei vielen Applikationen die bloße Entwicklung zu kurz greift. Immer, wenn Nutzer:innen eine Rolle spielen, werden die Anforderungen komplex und es geht auch um Themen wie Experience Design oder Usability. Der Citizen Developer braucht hierfür also auch entsprechende Fähigkeiten, um das Projekt umzusetzen. (Denn, immer eine Desginagentur ins Boot zu holen, wird bei der Masse an Arbeit wohl kaum funktionieren.) Glücklicherweise sind viele der hier relevanten Fähigkeiten im Menschen von Natur aus angelegt. Genau deshalb möchte ich analog zum Citizen Developer den neuen Begriff des Citizen Designers etablieren. Und mein Ziel ist es, Möglichkeiten zu schaffen, unter denen man sich in dieser Hinsicht einfach weiterbilden kann.

 

Designer: Kollaborative Problemlöser oder einzigartige Genies?

Zunächst allerdings möchte ich kurz mit zwei Missverständnissen zum Thema „Design“aufräumen. Erstens: Design ist weit mehr als eine ästhetische Disziplin, bei der es nur um das Äußere geht. Ja, künstlerische Kreativität, das Gestalten von Erfahrungen und Fachwissen zur zugrundeliegenden Theorie sind wichtiger Teil der Arbeit. Aber zweitens geht es auch ganz stark darum, mit der Kulturtechnik des Entwurfs Lösungen für Probleme zu entwickeln. Es geht um pragmatische Wege von der Idee zum Prototyp und Designmethoden können vielseitig angewandt werden, um Innovation von Anfang an zu gestalten. In der Realität umfasst das natürlich auch ein Skillset rund um kollaborative und kognitive Fähigkeiten.

Der Fokus auf Ästhetik ist wohl dem geschuldet, dass der Designausbildung in Deutschland eine künstlerische Eignungsprüfung vorgeschaltet ist. Damit sind Fähigkeiten gefragt, die erst über einen längeren Zeitraum kultiviert werden müssen, und es entsteht der Eindruck, nur Ausnahmetalente könnten gestalten. Realistisch betrachtet sind aber relevante kreative Fähigkeiten durchaus in jedem Menschen verankert. Es ist völlig klar, dass jeder Mensch in seiner Arbeit schöpferisch tätig sein kann. Unter den richtigen Voraussetzungen kann das jede:r trainieren, um dann in Unternehmen aller Branchen Designprinzipien anzuwenden; im Unternehmenskontext ist das auch ohne vertiefte Designausbildung allemal möglich, denn Werkzeuge wie Styleguide oder Designsystem vereinfachen dort die gestalterische Arbeit. Zusätzlich bringen Mitarbeiter:innen, die Designmethoden nutzen, noch Expertenwissen aus ihrem Tätigkeitsbereich mit, was ein zusätzlicher Vorteil sein kann.

Citizen Designer: Der aktuelle Begriff und unsere Interpretation

Nicht so elitär, bitte

Leider ist der Begriff des Citizen Design schon besetzt, weshalb wir uns augenzwinkernd in einen Streit um die Deutungshoheit begeben müssen. Prominent diskutiert wird er vor allem von Steven Heller im gleichnamigen Buch. Er argumentiert, Designer:innen seien zu oft tätig im Dienste wirtschaftlicher Unternehmen und sollten sich ihrer sozialen Verantwortung mehr bewusst werden. Das heißt, sie sollten genau schauen, welchen Einfluss sie mit ihrer Arbeit ausüben, welche Kund:innen sie sich aussuchen und wann sie gegenüber deren wirtschaftlichen Interessen selbstbewusst das gesellschaftliche Wohl ins Feld führen.

Heller fordert von Designern also Aktivismus, dass sie sich gestalterisch für die Menschen und das Gute in der Gesellschaft engagieren. Sie sollen sich als gute Bürger:innen (sprich: Citizens) verstehen. Dieser Aspekt müsse sich in unserer Branche mehr professionalisieren, damit wir rein wirtschaftlichen Interessen etwas entgegenzusetzen haben. (Ein längeres Gespräch mit dem Autor findet ihr auf YouTube.) Ich sehe hier zwei Probleme: Zum einen haben wir einen sehr konfliktgeladenen Ton des „guten Designers“ gegen den „bösen Kapitalismus“. Das ist sicher den amerikanischen politischen Verhältnissen geschuldet und aus diesen Ansichten macht Heller auch keinen Hehl. Zweitens zeichnet das Bild der Designerin als „Good Citizen“ immer noch eine erhabene Schöpferin, die sich zu den Menschen begibt, um mit dem tollen Werkzeug „Design“ ihre Probleme zu lösen. Ich finde, beide Bilder müssen wir auflösen, um in Zukunft wirklich voranzukommen.

Steven Heller zu seinem Citizen-Design-Begriff. Sehenswertes Interview, auch wenn seine Idee in eine andere Richtung geht, als unsere.

Mitmachen statt zuschauen

Ich kann Hellers Ansatz des „Good Citizen“ durchaus nachvollziehen, aber meines Erachtens reicht er nicht aus. Denn im Bürgerbegriff steckt ja ganz stark ein Moment des Mitbestimmens, des Mitmachens in einer Gemeinschaft, der Zusammenarbeit und eines Handelns, das mehr ist als nur Eigeninteresse. Schon John Dewey schlägt in dem Zusammenhang vor, dass kulturelle Systeme wir Demokratie immer erst als Lebensform, basierend auf angewandter Praxis, also im Tun erst richtig aufblühen. Unter den richtigen Bedingungen könne jede:r die notwnedigen Fähigkeiten zum Mitmachen erlernen – man müsse sie einfach nur schaffen. Und das lässt sich sehr gut auf einen modernen Designbegriff übertragen. Unter den richtigen Bedingungen kann Design den Menschen in jedem Unternehmen als Plattform dienen, um gestalterisch tätig zu werden und gemeinsam im Team Lösungen zu entwerfen.

Die zum Designen notwendigen Fähigkeiten hat jeder Mensch, auch wenn sie durch unterschiedliche Biographien unterschiedlich stark gefördert wurden. In unserer Gesellschaft hatten die meisten Menschen mit Designausbildung beispielsweise durch die Prioritäten des Elternhauses die Möglichkeit, schon früh ihre Kreativität zu pflegen und später zu professionalisieren. Peter Kruse sprach hierzu vom biografischen Unfall. Unser Ziel muss es nun sein, auch für andere die Bedingungen zu schaffen, in ihrem Berufsleben gestalterisch und sinnvoll tätig zu werden. Denn die sind in unserer hochspezialisierten Arbeitswelt, in der sich inzwischen oft auf Anwendung von Software und linear angelegte Formen der Zusammenarbeit (also nacheinander statt miteinander) konzentriert wird, selten gegeben. Es braucht also einen Arbeitskontext, in dem die entsprechenden Fähigkeiten trainiert werden können; der auf das Prinzip des Entwurfs, auf Kollaboration, Iteration und eine Idee des „sich zum Erfolg Scheiterns“, auf Menschzentrierung und Validierung unter realen Bedingungen setzt. Unser Anspruch ist es, die Idee, dass jede:r gestalten und damit Citizen Designer werden kann, in Organisationen zur Realität werden zu lassen.

Democracy is a way of personal life controlled […] by faith in the capacity of human beings for intelligent judgment and action if proper conditions are furnished. John Dewey, Creative Democracy

 

Citizen Design: Unsere Definition

Citizen Design beschreibt die Fähigkeit, auch ohne formale Designausbildung gestalterisch tätig zu werden. Citizen Designer:innen nutzen Design als strategisches Element zur Problemlösung in einem gegebenen Kontext oder System (z. B. einem Unternehmen). Innerhalb des Systems werden im Team und in multidisziplinärer Kooperation Probleme abgegrenzt und bearbeitet. Bei der Problemlösung kommen im Design bekannte Arbeitsmethoden, Prinzipien und Prozesse zum Einsatz. Diese schulen in den Mitarbeitenden gestalterische Fähigkeiten und sind im Prozess auf das iterative Finden, Testen und stetige Verbessern zweckdienlicher und nutzbringender Ideen ausgerichtet. Im Fokus steht dabei die Zusammenarbeit an sinnvollen Lösungen, von denen direkt betroffene Menschen profitieren und die verantwortungsvoll negative Effekte vermeiden. Die sinnstiftende Arbeit verändert nicht zuletzt das Erleben des Arbeitskontexts nachhaltig positiv und bringt so weitere kreative Energie hervor.


Bild: Citizen Design Tasks
Verteilung von Arbeitsfeldern
Die Arbeit von Designer:innen unterscheidet sich je nach Rolle und Projektanforderungen. Während im UX-Design der Fokus auf der Produktion liegt, konzentriert sich Strategic Design auf Produktentwicklung, Customer Value und den strategischen Level. Citizen Design ist ebenfalls produktionsnah, aber mit Schwerpunkt auf der Förderung des Entwicklungsprozesses und der Kooperation im Team.

Bild: Citizen Design Skills
Citizen Design: Relevante Skills
Als Citizen Designer braucht man neue Skills. Sie sind von der Kooperation mit interdiziplinären Teams geprägt. Die gute Nachricht: Hier ist nichts dabei, was man nicht lernen kann. Die dem Design zugeschriebenen Talente, wie überdurchschnittliche Kreativität und künstlerische Ausdrucksfähigkeit, sind kaum von Bedeutung.

Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft

500 Millionen Apps

Was das nun für den wirtschaftlichen Kontext heißt, dürfte eigentlich ziemlich klar sein. Wenn hunderte Millionen Applikationen zu gestalten sind, spart es schon allein eine Menge Budget, wenn Angestellte das als Citizen Designer teilweise einfach selbst machen können. Um das möglich zu machen, liefert Strategisches Design ein Toolset und Framework, um Designprinzipien im Projektkontext erfolgreich zu integrieren und Lösungen zu entwickeln. Es kann also eine Plattform sein, um beispielsweise in Zusammenarbeit zwischen gelernten Designer:innen und einem Team, Citizen Designer zu trainieren. Etwa durch das Bereitstellen passender Designmethoden und den Einsatz bzw. die Förderung relevanter Fähigkeiten.

In dem Prozess können dann die Stakeholder selbst gestalten, mit zwei großen Vorteilen: Die Teams wissen viel besser als wir, was sie eigentlich brauchen, und können dieses Wissen verstärkt einbringen. Das tun sie dann aber in einer kollaborativen Umgebung, die einen gemeinsamen kreativen Prozess ermöglicht. Dabei lernen beide voneinander: Designer schaffen die Voraussetzungen für diese neue Art des Arbeitens, moderieren, coachen und leiten die Beteiligten an und bringen ihre Designexpertise mit in den Prozess; dabei profitieren sie wiederum vom Fachwissen der Mitmachenden, die im besten Fall aus unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen kommen. So etabliert der Prozess nicht nur einen neuen Blick auf Innovation, sondern bricht auch Silos auf.

Ich bin überzeugt, viele Unternehmen sind mit Strategic Design in der Lage auch größere Probleme unserer Gesellschaft anzugehen.Felix Guder

 

Gestalterisch und sinnvoll zur Innovation

Genau deshalb versetzen die Kulturtechniken aus dem Design Unternehmen in die Lage, komplexe Aufgaben zu lösen, denen sie heute gegenüberstehen: Wirtschaftliche und technologische Fragen müssen mit dem menschlichen Kontext und ökologischen Herausforderungen in Balance gebracht werden. Zu diesem Zweck steckt im Konzept des Citizen Design viel innovatives Potenzial. Gepaart mit der Methodologie des Strategic Design eignet es sich zu weit mehr als „nur“ der Entwicklung technologischer Innovationen: Es ist vielmehr eine Grundlage zur Problemlösung, die für unterschiedliche Themenbereiche angewandt werden kann, in denen wir gerade Transformationsdruck erleben, seien es Bildung, Urbanität, Mobilität und viele andere. Ich bin überzeugt, viele Unternehmen sind mit Strategic Design in der Lage auch größere Probleme unserer Gesellschaft anzugehen und Lösungen dafür zu entwickeln.

Bei Hellers Argumentation entsteht zuletzt noch der Eindruck, dass Unternehmen eher nichts Gutes im Schilde führen. Nur die verantwortungsbewussten Designer:innen stellen sich ihrem kapitalistischen Grundinteresse entgegen. Diesen Eindruck halte ich gelinde gesagt für schwierig. Denn auch in einem Unternehmen arbeiten Menschen, und die wollen genauso das Gute und sind in vielen Fällen schon als gute „Citizens“ engagiert. Außerdem haben sich auch viele Unternehmen tolle soziale, ökologische und andere Projekte auf die Fahne geschrieben. Von einem „wir gegen die“ sollte also auf keinen Fall die Rede sein. Denn gerade eine schöpferische, sinnvollle Tätigkeit ist etwas, das sich viele heutige Arbeitnehmer:innen wünschen, das ihnen Spaß macht und ein gutes Gefühl gibt. Um die Transformation anzugehen, bin ich in Zukunft auch deshalb für einen optimistischeren Ausblick, denn der macht das Mehr an Kreativität, das wir in Zukunft brauchen, viel eher möglich.

Strategic Design als Plattform zur Weiterbildung

Und wie wird man zum Citizen Designer?

Wir haben bei Iconstorm lange getüftelt, um die richtigen Ansätze für den neuen Weg zu entwickeln. Und ich glaube, wir sind mittlerweile sehr gut aufgestellt. Mit Strategic Design haben wir einen strukturierten Prozess, mit dem wir Designwerkzeuge, aber auch das passende Mindset im Unternehmen verankern können, damit besagte Mitmach-Kultur entsteht und die Kompetenz vieler unterschiedlicher Menschen einfließen kann. Gleichzeitig bietet das Meaningful Innovation Framework einen Ansatz, mit dem wir auf den großen Wurf hinarbeiten können; daraus entwickeln sich sinnvolle Innovationen, die mehr als „nur“ einen wirtschaftlichen Nutzen bringen.

Beides kombiniert macht aus Mitarbeiter:innen aller Couleur Citizen Designer. Ja, die Skills, die dafür notwendig sind, sind gar nicht wenige. McKinsey versucht dazu jüngst eine Phänomenologie, die zum Beispiel kognitive und interpersonale Fähigkeiten sowie Selbstmanagement und Wissen rund um die Digitalisierung umfassen. Und aus unserer eigenen Forschung wissen wir, dass das noch längst nicht alles ist. Aber genau dieses Handwerkszeug kann beim aktiven Gestalten gelernt werden, ob direkt im Projekt oder über Lernangebote wie in unserer M1ND Academy. Deshalb wäre mein Plädoyer an dieser Stelle: Lasst es uns anpacken. Denn Veränderung und Innovation werden wir in Zukunft aus allseits bekannten Gründen in jedem Fall brauchen.


Transformative Projekte
Mit dem Iconstorm Strategic Design Sprint unmittelbar im Projekt Wissen aufbauen. Mit verwertbaren Ergebnissen und flexibel einsetzbar.

Mehr Infos

Strategic Design Academy
Gezielt Design-Skills aufbauen mit der M1ND Strategic Design Academy. Relevante Trainings von erfahrenen Praktikern in inspirierender Umgebung.

Zur Website



Autor

Bild: Felix Guder, Gründer und Geschäftsführer von Iconstorm

Anschauen, Hinterfragen, Verbessern, Erproben: Felix Guder ist als Iconstorms Geschäftsführer ständiger Antreiber bei der Entwicklung unseres Strategic-Design-Ansatzes. Und als überzeugter Praktiker trägt er unsere Ideen zu unseren Kunden und Partnern.

Kontakt