Die Zukunft der Arbeit nach Künstlicher Intelligenz

AI und die Freiheit der Muße

Künstliche Intelligenz soll einen Großteil unserer Arbeit übernehmen. Was machen wir mit der gewonnenen Zeit?

Der Wert der Arbeit in der industrialisierten Welt

Empfinden wir zurzeit eine erstaunliche Überbewertung der Arbeit? In unserer Gesellschaft gehört es zu einer erfolgreichen Manager-Karriere, sein Leben dem Unternehmen unterzuordnen und selbst den Schlaf auf 5 Stunden zu verkürzen, um noch mehr leisten zu können. Freie Aktivität, jenseits von Arbeit, ist in diesen Lebensentwürfen schlicht nicht mehr vorgesehen. Und weil dieser Entwurf mit einer exponentiellen Bezahlung einhergeht, wäre es gesellschaftlich nicht akzeptiert, auch noch Zeit dafür zu haben. Wer so viel verdienen möchte, muss seine Lebenszeit für die Arbeit opfern. Vor nicht allzu langer Zeit hat man diese Form der Unterwerfung als ein Wesensmerkmal des Proletariats bezeichnet. Man besitzt nichts Anderes als seine Arbeitskraft.

Aber auch, wenn man keine Führungskraft ist, bietet die Dienstleistungsgesellschaft dem Wissensarbeiter eine ähnlich fixierte Perspektive. Unter dem Terminus der geistigen Arbeit steht ein Großteil der Bevölkerung unter im­merwäh­rendem Druck, da es neben der Arbeit nur den Zustand der Arbeitslosigkeit gibt. Die dabei entstehende Frustration wird durch Konsum kompensiert. So (zugegeben etwas einfach formuliert) funktioniert das System.

Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß zu sagen brauche, was ich nicht weiß; Daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält, Schau alle Wirkenskraft und Samen, Und tu nicht mehr in Worten kramen.Johann Wolfgang von Goethe: Faust I

 

Der Arbeitsmarkt und künstliche Intelligenz – Ist eine Krise wirklich alternativlos?

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass eine wie auch immer geartete KI das Gefühl einer existenziellen Krise heraufbeschwört. Wenn keine Arbeit mehr zu tun ist, bleibt uns eine Freizeit, die wir bisher nur dazu benutzt haben, um unsere Leistungsfähigkeit wieder herzustellen. Oder eben die Arbeitslosigkeit und der totale Verlust von Bedeutung. Heute können wir uns vielleicht noch einreden, dass diese Technologie noch nicht so weit ist; doch am Wesen unseres Dilemmas wird sich dadurch nichts ändern.

Aus der bevorstehenden Deflation unserer Arbeitskraft ergibt sich ein Szenario, in dem wir unser Verhältnis zur Arbeit überprüfen und auf die Suche nach Alternativen gehen müssen. Denn ansonsten wird sie zu Konflikten führen – und es ist keinesfalls ausgemacht, welche Berufsgruppen dabei die ersten sind, die bedeutungs- und wirkungslos werden. Nun fordert mich als Designer diese vermeintlich alternativlose Vorstellung von einer „Krise“ geradezu heraus. Und ich bin mir sehr sicher, dass man Alternativen zum vorherrschenden Konzept finden kann, die gleich in mehrfacher Hinsicht einen wirklichen Fortschritt darstellen.

Protestieren für das Recht auf Arbeit – Der Sinnverlust, der mit der Arbeitslosigkeit einhergeht, ist bei weitem kein unbekanntes Phänomen. (Library of Congress)

Arbeit, Arbeitslosigkeit – und Muße

Als Designer bin ich zusätzlich – sozusagen von Berufswegen – mit alternativen Formen von Beschäftigung vertraut. Meine Profession versteht sich selbst als eine angewandte Abwandlung der freien Kunst. Der Entwurf – oder die „geniale“ Idee – ist ein in hoher Frequenz wiederkehrendes Moment. Es kann durch harte Arbeit begünstigt, aber auch zerstört werden und obendrein auch aus dem Zustand des Müßiggangs entstehen.

Das Wesen der Tugend liegt mehr im Guten als im Schweren.Thomas von Aquin

Nun ist Müßiggang allerdings keine Tätigkeit. Unsere Kunden würden zur Zeit befremdlich reagieren, wenn wir als Designagentur eine Stunde Spaziergang im Frankfurter Grüneburgpark anstelle eines mehrtägigen Designprozesses abrechnen würden. Und das auch, wenn das Ergebnis das gleiche wäre. Das liegt vor allem daran, dass im Wort „Müßiggang“ ein Zustand verborgen ist, der uns in der heutigen Arbeitswelt sehr fremd scheint: Es geht um die Muße. Doch gerade sie stellt tatsächlich eine Alternative zu dem Dualismus aus Arbeit und Arbeitslosigkeit dar. Und wir könnten sie in Zukunft womöglich dringend brauchen – beispielsweise um über einen alternativen Umgang mit der Herausforderung KI nachzudenken.

 

Ist Muße uns heute fremd geworden?

Wer etwas über Muße erfahren möchte, dem geht es wie einem Archäologen. Es ist lange her, dass dieses Wort Konjunktur hatte. Aber die Suche lohnt sich. In seiner Klarheit sticht ein kleines und für unsere heutigen Verhältnisse dünnes Büchlein des christlichen Philosophen Josef Pieper hervor. „Muße und Kult“ lautet der Titel, erschienen 1948 im Kosel-Verlag/München.

Unsere Ausgabe von Josef Piepers Muße und Kult – Die 8. Auflage von 1989.

Piepers Text ist in einer Zeit entstanden, in der sich nach der Katastrophe des zweiten Weltkriegs die gesamte deutsche Bevölkerung benommen aufrappelte, um mit einer unvorstellbaren Emsigkeit das Land wieder aufzubauen. Den Blick nach vorn, getrieben vom Schrecken der (eigenen) Vergangenheit wurde das Wirtschaftswunder Realität. Josef Pieper zeigt, wie eng während dieses Teils unserer Geschichte das Korsett aus Arbeit wurde, und spricht von einem selbst auferlegten Zwang. In dieser Situation war für Muße keine Zeit.

Der Name also, mit dem wir die Stätten der Bildung, und gar die Ausbildung, benennen, bedeutet Muße. Schule heißt nicht „Schule“ sondern: Muße.Josef Pieper: Muße und Kult

Pieper macht deutlich, wie uns die Muße über die Jahrhunderte schleichend abhanden gekommen ist. So geht unser heutiges Wort Schule zwar noch auf den lateinischen Begriff „Schola“ zurück, der nichts anderes als Muße bedeutet. Doch betrachten wir die Schule als einen Ort der Muße? Wohl kaum. Gegen den Begriff der allgegenwärtigen „Arbeit“ kann sich das Konzept heute nicht mehr durchsetzen. Bei den griechischen Philosophen war das noch anders: Sie trennten zwischen freien und praktischen Künsten (artes liberales und artes mechanicae (serviles)), wobei die freien Künste auf die Muße angewiesen waren. Denn Muße ist das einfache (An-)Schauen (simplex intuitus), das Hinhorchen auf das Wesen der Dinge, und steht im Gegensatz zur Ratio, der Kraft eines diskursiven Denkens.

Die Muße schafft die Bedingung für die Erkenntnis und die Vorstellung, für die Idee. Doch während das Mittelalter durchaus noch etwas mit dem Begriff anfangen konnte, begann die Aufklärung das rein „geistige“ der Muße kritisch zu hinterfragen. „Nach der Meinung Kants also verwirklicht sich menschliches Erkennen wesentlich in den Akten des Untersuchens, des Verknüpfens, des Vergleichens, des Unterscheidens, des Abstrahierens, des Schlussfolgerns, des Beweisens – lauter Formen und Weisen denkerischer Anstrengung.“ Und weiter: „…dass der Mensch allem misstraut, was mühelos ist; dass er gewillt ist, einzig das mit gutem Gewissen als Eigentum zu haben, was er sich selbst in schmerzhafter Mühsal errungen hat.“ Das einfache Anschauen als ein wesentliches Moment für den gestalterischen und kreativen Prozess ist wertlos, weil es keine Mühe macht (Erkenntnismühe als Kriterium der Wahrheit).

Die Muße ist nicht die Haltung dessen, der eingreift, sondern dessen, der sich öffnet…Josef Pieper: Muße und Kult

Für mich als Designer ist die Muße nach ihrer antiken Definition ein wichtiger Zustand. Der Vorgang des „einfachen Schauens“ ist mir bekannt. Er ist gleichzusetzen mit der Ideation-Phase. Die wird oft irrtümlich als „Ideen-Erarbeitungsphase“ gesehen, kann aber viel fruchtbarer sein, wenn man dazu bereit ist, die Ideen einfach einzuladen, damit sie auftauchen können. Es wird nämlich nicht gelingen, das eigene Gehirn oder die der Mitarbeiter und Kollegen zu einer guten Ideen zu zwingen. Kreativ tätige Menschen wissen das. Und sie achten deshalb mit einer ausgeprägten Sensibiliät auf die vorherrschenden Bedingungen, unter denen eine freie kreative Arbeit stattfinden soll. Neudeutsch spricht man hier vom „chillen“, aber eigentlich geht es dabei um Muße.

 

Macht KI unsere geliebte Arbeit überflüssig?

Leider ist es genau Kants geistige Arbeit, auf die es künstliche Intelligenz abgesehen hat. Die von Kant vorgebrachten Merkmale der geistigen Arbeit – vom Vergleichen bis zum Beweis – sind allesamt Felder, auf denen das menschliche Gehirn bereits heute von den Maschinen übertroffen wird. Schon jetzt sind Algorithmen viel besser als wir Menschen darin, Muster aus Daten zu erkennen. Sie sind gewissenhafter als wir, wenn verglichen werden muss. Und sie sind williger, die notwendige Erkenntnismühe abzuleisten.

Daher lesen wir heute wiederholt Prognosen, die behaupten, dass ausgefeilte Algorithmen viele Tätigkeiten überflüssig machen werden. Und geistige Arbeit im Sinne Kants unterliegt damit einer sich beschleunigenden Deflation. Diesem Dilemma werden wir nicht entkommen, selbst wenn KI auch zu einem Boom an neuen Jobs (Lehrer, Programmierer, etc.) führen sollte. Die Frage ist nur: Ist der Verlust an Arbeit eigentlich so schlimm? Oder birgt er auch ein gehöriges Potenzial an Befreiung?

Ist Muße die Alternative zu zwanghafter Arbeit? (National Archives and Records Administration)

Die Freiheit der Muße

Josef Pieper würde in unserer heutigen Situation in der Muße eine Chance erkennen. Denn die Freiheit der Muße beginnt dort, wo sich der Mensch bewusst der Funktionalisierung durch Arbeit widersetzt. In dem Moment, in dem er beginnt, eine Anschauung über die Zusammenhänge und die Welt als solches anzustellen. Auch, wenn es für uns jetzt noch schwer vorstellbar ist, die Vorzeichen, dass wir uns verstärkt diesem Konzept zuwenden müssen, sind bereits erkennbar.

Was werden wir mit unserer freien Zeit tun? Werden wir uns, wie von der Unterhaltungsindustrie erwartet, ins nicht enden wollende Abenteuer der Virtual Reality flüchten und uns dort verlieren? Oder wird uns die Suche zu anderen Inhalten führen? Vielleicht zu Inhalten, die wir in den letzten Jahrhunderten unter dem Primat der Lohnarbeit praktisch vergessen haben?

Muße ist, als seelische Haltung. Muße ist mit den äußeren Fakten von Arbeitspause, Freizeit, Wochenend, Urlaub nicht schon gegeben.Josef Pieper: Muße und Kult

Als historischer Vergleich für unsere Situation drängt sich mir die industrielle Revolution auf, der vielleicht radikalste Wandel, den die westliche Gesellschaft bisher erlebt hat. Auch damals gab es plötzlich eine gesellschaftliche Klasse, die den Anteil an Lohnarbeit in ihrem Leben extrem reduzieren konnte: Das überall zeitgleich aufstrebende Bürgertum erwirtschaftete sein Geld zunehmend über den Einsatz von Kapital. Der Bourgeois in Frankreich, der englische Gentleman, der deutsche Großbürger erlebten einen Wohlstandsschub, während sie gleichzeitig immer weniger körperlich arbeiteten.

Der neu erworbene Reichtum ermöglichte dieser Klasse einen Lebensstandard, der in den Jahrhunderten zuvor allein dem Adel vorbehalten war. Und was wurde getan? Die gepflegte Langeweile in den Clubs der Großstädte sorgte für eine Blütezeit der Muße. Es wurde in Bildung und Wissenschaft investiert. Es wurde gereist und entdeckt. Viele Institute, Universitäten und Museen wurden genau in dieser Phase gegründet und auch der moderne Tourismus hatte in dieser Zeit seinen Ursprung. Eine Vielzahl von Innovationen sorgte für einen tiefgreifenden Wandel und die Leistungen und Errungenschaften der Epoche prägen noch heute das Gesicht von vielen euroäischen Großstädten. Das konnte nur geschehen, da das Bürgertum die Möglichkeit hatte, sich abseits des Lohnerwerbs um eine wirkliche Bereicherung des Lebens zu kümmern.

Knowledge is one thing, virtue is another; good sense is not conscience, refinement is not humility, nor is largeness and justness of view faith. Philosophy, however enlightened, however profound, gives no command over the passions, no influential motives, no vivifying principles. Liberal Education makes not the Christian, not the Catholic, but the gentleman.J. H. Newman’s “The Idea of a University”

 

Muße wird zur gesellschaftlichen Aufgabe

Es ist völlig klar, dass die Zeit nach der industriellen Revolution nicht unbedingt von gerechter Verteilung geprägt war. Dennoch zeigt das Phänomen, was Menschen möglich ist, wenn sie sich mit Muße mit der Welt auseiandersetzen. Und dieser Blick in die Vergangenheit wirft gleichzeitig die Frage auf, wie wir mit unserer Zukunft umgehen möchten. Soll es eine Zukunft der Arbeitslosigkeit werden – oder eine der Muße? Indem uns Algorithmen und Roboter in unserer – relativ – wohlhabenden Gesellschaft von der Last der Arbeit befreien, werden sehr viele Menschen mehr Zeit haben. Zeit, die die Chance bietet, neue Systemmuster zu entdecken und alte Denkmuster zu durchbrechen. Doch genau dafür müssen wir uns die Fähigkeit zur Muße als Inspirationsquelle wieder aneignen.

KI kann die Bedingungen dafür schaffen (Wohlstand bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit), dass wir die Muße wiederentdecken. Sie kann uns dabei aber nicht helfen. Zum einen müsste dafür die Existenz „überflüssiger“ Arbeitskräfte weiter gesichert sein, sei es durch ihr eigenes Kapital, durch die Institution Bank, ein bedingungsloses Grundeinkommen oder durch einen finanziellen Ausgleich wie eine Maschinen- oder KI-Steuer. Zum anderen ist KI selbst nicht zur Muße fähig. Der Prozess des einfachen Anschauens kennt keine Wertung. Ohne Wertung aber kann bisher keine mir bekannte KI Technologie fokussiert werden (lernen). Die Fähigkeit zur Muße ist ein struktureller Vorteil des menschlichen Gehirns.

Und wie im Bereich des Guten gerade die größte Tugend nichts Schweres kennt, so auch wird die höchste Form der Erkenntnis – der blitzhafte geniale Einfall, die echte Kontemplation (ϑεωρία (theōría)), dem Menschen zu teil wie ein Geschenk; sie ist mühelos und ohne Beschwer.Josef Pieper: Muße und Kult

In den nächsten Jahren wird es also nicht darauf ankommen, wie sehr künstliche Intelligenz unsere so liebgewonnene Arbeit abwertet und wie stark der sich stetig beschleunigende Prozess einer Ent-Proletarisierung einsetzt, sondern wie wir mit der freien Zeit umgehen. Werden wir uns an die Themen wagen, die durch unsere bestehenden Muster außerhalb unserer Aufmerksamkeit liegen? Werden wir wirklich neue Entdeckungen machen können? Werden wir die Kunst der einfachen Anschauung wieder neu erlernen und zu einem besseren Verständnis von den Bedingungen erlangen, die unsere Gegenwart bestimmen?

Ich denke, wir sollten uns diesen neuen Aufgaben, die durch die Möglichkeiten von KI auf uns zukommen, stellen. Denn abseits unserer bestehenden Denkmuster können wahre Schätze gefunden werden. Die menschliche Fähigkeit zur Muße wird uns dabei helfen.